Jorge Bucay - Komm, ich erzähl dir eine Geschichte
Das Buch an sich begleitet den Protagonisten Demian zu seinen Therapiesitzungen. Denn der Therapeut, Jorge, hat die Angewohnheit die Sitzungen mit Geschichten, Märchen oder Erzählungen aufzuwerten. Diese werden im Buch gesammelt und geben nicht nur Demian gut zu denken sondern auch allen die sie lesen. Es hat Spaß gemacht, sich durch die Geschichten zu lesen und diesen wunderbaren Moment zu erleben wo es Klick macht. Ich habe teilweise einen tieferen Einblick in viele Dinge gewonnen, was natürlich die pure Absicht ist vom Autor aber perfekt aufgeht.
Es ist schon so gehalten, dass eine Identifizierung mit einigen von Demians Problemen, für viele möglich ist. Das macht eben die Geschichten dann so gut, da man selber darüber nachdenken und analysieren kann. Ist ein spannendes Konzept. Das Buch an sich habe ich gemütlich über zwei Tage weggelesen, durch die kurzen Kapitel, hatte ich immer die Möglichkeit, die Gedanken zu sortieren.
Die Geschichten sind bunt und vielfältig. Am Ende des Buches gab es ein Gedicht von Leon Booth, dass es mir sehr angetan hat und ich es daher hier teilen möchte.
(Bucay, Jorge: Komm, ich erzähle dir eine Geschichte, S. 269ff.)
Ich war vom ersten Moment an da,
im Adrenalin,
das durch die Adern deiner Eltern floss,
als sie sich liebten, um dich zu empfangen,
und später in der Flüssigkeit,
die deine Mutter in dein kleines Herz pumpte,
als du noch nichts weiter als ein Parasit warst.
Ich kam zu dir, noch bevor du sprechen konntest,
bevor du auch nur irgend etwas verstehen konntest
von dem, was die anderen dir sagten.
Ich war schon da, als du ungeschickt
deine ersten Schritte unternahmst
vor den vergnügt belustigten Augen aller.
Als du unbeschützt und ausgesetzt warst,
als du verletzbar und bedürftig warst.
Ich trat in dein Leben
wie ein magischer Gedanke;
in meiner Begleitung waren…
der Aberglaube und die Beschwörungsformeln,
die Fetische und Amulette…
die guten Manieren, die Gewohnheiten, die Tradition …
deine Lehrer, deine Geschwister und deine Freunde …
Bevor du wusstest, dass es mich gibt,
teilte ich deine Seele in eine helle und in eine dunkle Welt.
Eine Welt mit dem, was gut, und eine mit dem, was nicht gut ist.
Ich brachte dir das Schamgefühl,
ich zeigte dir all das Schadhafte an dir,
das Hässliche,
das Dumme,
das Unangenehme.
Ich klebte dir das Etikett „anders“ auf,
ich sagte dir zum ersten Mal ins Ohr,
dass etwas ganz und gar nicht gut lief bei dir.
Ich existierte schon vor der Bewusstwerdung,
schon vor der Schuld,
vor der Moral,
mich gibt es seit Beginn der Zeitrechnung,
seitdem Adam sich für seinen Körper schämte,
als er dessen Nacktheit bemerkte…
und sie bedeckte!
Ich bin der ungeliebte Gast,
der unerwünschte Besucher,
und trotzdem
bin ich der erste, der kommt, und der letzte, der geht.
Ich bin mit der Zeit mächtig geworden,
indem ich die Ratschläge deiner Eltern befolgte,
darüber, wie man im Leben Erfolg hat.
Indem ich die Gebote deiner Religion beachtete,
die dir sagen, was du zu tun und zu lassen hast,
um in Gottes Schoß aufgenommen zu werden.
Indem ich die grausamen Scherze
deiner Schulkameraden erlitt,
wenn sie sich über deine Schwächen lustig machten.
Indem ich die Erniedrigungen deiner Vorgesetzten ertrug.
Indem ich dein unansehnliches Spiegelbild betrachtete
und es anschließend mit den Berühmtheiten
aus dem Fernsehen verglich.
Und jetzt, endlich,
mächtig, wie ich bin,
und durch die einfache Tatsache,
dass ich eine Frau bin,
dass ich schwarz bin,
dass ich Jude bin,
dass ich homosexuell bin,
dass ich Orientale bin,
dass ich unfähig bin,
dass ich groß, klein oder dick bin …
kann ich mich
in einen Haufen Müll
verwandeln,
in Abschaum,
in einen Sündenbock,
in den Universalschuldigen,
in einen verdammten
abzulehnenden
Bastard.
Generationen von Männern und Frauen
halten mir die Stange.
Du kannst dich nicht von mir lösen.
Das Leid, das ich verursache, ist so erdrückend,
dass du mich, um mich zu ertragen,
an deine Kinder weiterreichen musst,
damit sie mich an die ihren reichen,
von Jahrhundert zu Jahrhundert.
Um dir und deinen Nachkommen zu helfen,
werde ich mich als Perfektionismus verkleiden,
als hohe Ideale,
Selbstkritik,
Patriotismus,
Moralität,
gute Gepflogenheiten,
als Selbstkontrolle.
Der Schmerz, den ich dir verursache, ist derart stark,
dass du mich verleugnen willst,
und deshalb
wirst du versuchen, mich hinter deinen Persönlichkeiten
zu verstecken,
hinter Drogen,
hinter deinem Kampf ums Geld,
hinter deiner Neurose,
hinter deiner unterdrückten Sexualität.
Aber egal, was du tust,
egal, wohin du gehst:
Ich werde dort sein,
immer.
Denn ich reise mit dir,
Tag und Nacht,
ununterbrochen,
grenzenlos.
Ich bin die Hauptursache der Abhängigkeit,
des Besitzanspruchs,
der Anstrengung,
der Unmoral,
der Angst,
der Gewalt,
des Verbrechens,
des Wahnsinns.
Ich werde dich die Angst vor Zurückweisung lehren
und dein Leben dieser Angst anpassen.
Von dir bist du abhängig, wenn du weiterhin
diese begehrte, gewünschte Person sein willst,
die gefeierte, freundlich und angenehm,
die du heute den anderen vorführst.
Von mir hängst du ab,
denn ich bin die Truhe, in der du
die unangenehmsten Dinge versteckst,
die lachhaftesten,
unerwünschtesten deiner selbst.
Dank mir
hast du gelernt, dich mit dem zufriedenzugeben,
was das Leben dir gibt,
denn was dir auch widerfährt,
wird immer mehr sein
als das, was du glaubst, verdient zu haben.
Du hast es erraten, stimmt´s?
Ich bin… das Gefühl der Ablehnung,
das du dir selbst gegenüber hegst.
Erinnere dich an unsere Geschichte…
Alles begann an jenem grauen Tag,
an dem du aufhörtest, stolz
„Ich bin!“ zu sagen.
Und beschämt und ängstlich
senktest du den Kopf
und ändertest deine Worte und dein Handeln
gemäß dem Gedanken:
„Ich sollte sein.“
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