Annie Ernaux - Die Scham
Die Müdigkeit bahnt sich nur langsam an in der Nacht, daher hab ich mir noch ein Buch gegriffen. Es kam gestern an. Den Titel habe ich irgendwann mal aufgeschnappt, zudem hat die Autorin 2022 den Literaturnobelpreis gewonnen. Irgendwo dazwischen wird der Grund liegen, warum ich es hier habe. Das Buch hat 111 Seiten und ich habe es in knapp anderthalb Stunden durchgelesen. Eine autobiografische Aufschlüsselung von einem ganz bestimmten Moment im Juni 1952 als Annie 12 Jahre alt ist. Ihr Vater versucht ihre Mutter umzubringen.
Das ist kein Spoiler, denn damit geht das Buch los. Die Mutter überlebt und das Leben der Familie geht ihren gewohnten Gang.
Interessant wird es als Annie ein Foto aus dieser Zeit wiederfindet, 44 Jahre später, genau an diesen Moment zurückdenkt und dann den Rahmen für die Analyse schafft. Denn ab diesem schlimmen Ereignis, ist der gewohnte Alltag vorbei und ihr wird bewusst, dass die Leute in ihrer Stadt auf sie und ihre Familie hinabsehen. Das Streben nach sozialem Aufstieg und einer Angepasstheit verpufft in der Erkenntnis, dass sie sich schämen muss für ihre Familie und ihrer Herkunft. Ein beeindruckend geschriebener Rückblick auf ihre eigene Jugend aus der Perspektive einer jetzt erwachsenen Frau.
Wahrscheinlich alle haben solche Flashbacks in die eigene Kindheit von den großen oder kleinen Momenten die einfach im Kopf hängengeblieben sind und von Zeit zu Zeit völlig willkürlich präsent sind. Als Kind hat man eine völlig andere Sicht auf die Dinge, geprägt von den Eltern, Geschwistern, Kindergarten oder Schule. Es fügt sich von ganz allein. Nur irgendwann kann der Moment auftauchen, wo man merkt: Das ist alles gar nicht so, wie mir erzählt worden ist! Sätze wie „Benimm dich, was sollen die Leute sonst denken?“ implizieren, dass man einen Standard einhalten will um eben nicht in die untere Schicht/Schublade gesteckt zu werden. Was macht man aber, wenn langsam klar wird, die Leute halten einen für das Letzte? Richtig, man fängt an sich zu schämen. Zudem sieht man immer mehr und öfter Anzeichen für diese Einordnung.
Ich glaube, wenn man diese Desillusionierung selber nicht erlebt hat, ist dieses Buch ein guter und strukturierter Einblick in dieses Thema. Es ist für mich absolut faszinierend, wie die Autorin es geschafft hat, das alles so klar zu formulieren und gut strukturiert aufs Papier zu bringen. Denn das, was sie da geschrieben hat, mach ich lediglich, mit mehr als fünf Loopings, in meinem Kopf. Das ist Schreiben auf einem komplett anderem Level. Starke Frau, Literaturnobelpreis absolut verdient und ein Buch, dass mich staunend sowie demütig dasitzen lässt. Top.
Kommentare
Kommentar veröffentlichen