David Albahari - Die Ohrfeige

 

Schon sehr lange habe ich nicht mehr so mit einem Buch gekämpft. Das lag zum einen an der ziemlich wilden Geschichte und zum anderen rein handwerklich an den fehlenden Absätzen im Buch. Wie das ganze aussieht, werde ich weiter unten noch zeigen. Es gibt lediglich alle 30-40 Seiten einen Bruch, der einem neuen Kapitel gleich kommt. Ansonsten ist alles im Blocksatz so runtergeschrieben. Ich saß teilweise wie in der Grundschule mit einem Zettel da, mit dem ich die unteren Zeilen abgedeckt habe, weil meine Augen einfach nichts zum festhalten hatte und alles ineinander geschwommen ist. Jedes Mal war es ein Akt dieses Buch in die Hand zu nehmen, mit dem Wissen sich durch eine ziemlich verworrene Story im Blocksatz zu arbeiten. Das war auch der Grund, warum es hier mindestens zwei Jahre schon auf einem Stapel lag. Ich bin froh, dass ich es nun abhaken und ins Regal stellen kann. 

Der Protagonist schreibt seine Geschichte hier auf, die er in Zemun, ein Stadtteil von Belgrad, erlebt hat. Er ist Kolumnist bei einer Zeitung und beobachtet während eines Spaziergangs, wie eine junge Frau geohrfeigt wird. Daraufhin geht ein kompletter Fiebertraum an Story los. Es tauchen Symbole auf und er wird immer tiefer in die Geschichte der Juden in Zemun eingeführt. Es geht um die Kabbala, eine mystische kulturelle Traditionsform des Judentums, dem wieder stärker werdenden Antisemitismus in Serbien, Mathematik, Seelentransfers, Verschwörungen, Politik, Flucht und die gängige Frage nach dem Großen und Ganzen. Im Verlauf wird relativ deutlich, warum es keine Absätze gibt. Das war mir eigentlich von vornherein klar, denn sonst würde kein Verlag es kaufen und durchs Lektorat bekommt man das so nicht durchgewunken. Es liegt einfach daran, dass der Protagonist in Eile seine Gedanken versucht, gebündelt aufzuschreiben. Getrieben durch die Zeit, die ihn immer mehr vergessen oder falsch verknüpfen lässt, einem Kugelschreiber dem die Tinte langsam ausgeht, das verlorene Zuhause und dem Drang sein Erlebtes auf Papier zu bannen. Er schweift immer wieder ab, so geht es anderthalb Seiten lang um ein Nudelholz. Dann findet er den Weg wieder zurück, da er selber beim Schreiben merkt: Huch, ich schweife ab. Man sitzt also im Kopf des Schreibers, Protagonisten, der versucht sich zu erinnern. 

Es ist ein gutes Buch und eine gut ausgearbeitete Geschichte. Den singulären Punkt, an dem alle Fragmente an ihren Platz rutschen, gibt es nicht so richtig. Aber es werden genug Informationen geliefert, damit zumindest die großen Fragen nicht unbeantwortet bleiben. Den Rest kann man sich zurecht legen wie man mag. Ich habe eine ganze Menge Neues gelernt, daher war es zumindest kein Reinfall. Lediglich eine Menge Arbeit um dranzubleiben. Trotz der Blocksätze bin ich immer mal wieder an schönen oder außergewöhnlichen Sätzen hängengeblieben. Damit die nicht untergehen, habe ich diese markiert und werde sie hier im Blog für die Ewigkeit aufbewahren. Denn, ich bin ehrlich, so schnell werde ich das Buch nicht mehr in die Hand nehmen. Trotzdem gutes Buch! 

„Sie nahm ein Buch von dem nächstliegenden Stapel und legte es auf den Boden. Ich lass es hier, sagte sie, aber ich lasse es auch in mir liegen.“ (S. 176) 

„Meine Worte schallten durch den Raum, stießen gegen die Wände und das Fenster, fielen zu Boden, genau so wie sie es hier tun, wenn ich das Schreiben vergesse und anfange Selbstgespräche zu führen. Manchmal liegen so viele Worte auf dem Boden, dass ich dieses bescheiden eingerichtete Zimmer nur staksend durchqueren kann. Ich werde noch einmal auf einem zertretenen Wort ausrutschen, stürzen und unter diesem Sprachmüll begraben liegen bleiben, bis wir zusammen vermodern, die Worte und ich, eine Leiche neben der anderen.“ (S. 208f) 

„Das Leben ist milde ausgedrückt ein Chaos, ein Chaos, das zwar nicht jeder Ordnung entbehrt, aber diese Ordnung ist dermaßen kompliziert, dermaßen verzwickt, dass wir sie beim besten Willen nicht als solche erkennen.“ (S. 265) 

„Schweigen ist zwar ein um die Weisheit gezogener Zaun, aber wenn es an Weisheit mangelt, kann Schweigen sie nicht schaffen.“ (S. 302) 

„[…], denn die ungeklärten Momente in unserem Leben enthalten bei jeder Wiederholung im Geiste einen winzigen Teil unseres Wesens, und je mehr es solche ungeklärten Stellen, solche ungelösten Situationen gibt, umso größer ist die Fragmentierung unseres Wesens, umso weniger sind wir in unserer Wirklichkeit präsent.“ (S. 354) 

„Ich meine diesmal nicht den Tod. Ich meine das Gefühl, das wir haben, wenn eine Kette von Ereignissen abgeschlossen ist, und nichts darauf hindeutet, wie der neue Anfang aussehen könnte, oder ob es überhaupt einen gibt.“ (S. 365) 

„Immer öfter denke ich, dass unser Leben aus einer Anhäufung verpasster Gelegenheiten besteht; hin und wieder nimmt man eine wahr, aber die meisten nicht.“ (S. 366) 

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