Tijan Sila - Die Fahne der Wünsche
Nachdem ich den ersten Roman von Tijan Sila "Tierchen unlimited" bereits gelesen hatte, habe ich mich nun dem zweiten Roman zugewandt. Beide Bücher konnte ich gebraucht kaufen, daher waren sie günstig und lagen hier, noch gar nicht so lange, auf einem meiner Bücherstapel. Kurz zu Tierchen unlimited: Das Buch habe ich an einem Abend, in einem Rutsch, durchgelesen. Es ist eine gute Geschichte, mit viel Humor aber auch einer gewissen Tiefe die man hineininterpretieren kann. Sehr angenehmer Schreibstil und gut aufgebaut.
Den Eintrag hier bekommt aber das zweite Buch vom Autor: Die Fahne der Wünsche.
Man begleitet den 16-jährigen Ambrosio, der in einem Land namens Crocutanien lebt, das am Rande Europas liegt. Crocutanien ist ein totalitär geführtes Land und es regiert eine Partei die dem Spiroismus anhängt. Klingt alles etwas abgefahren. Die Einführung in das System was dort herrscht, wird aber relativ schnell klar. Schließlich sitzt Ambrosio mittendrin. Er ist ein Rennradfahrer, trainiert viel und hart und darf bei Amateurrennen und später auch bei Rennen im Ausland starten. Das Rennradfahren nimmt zwar einen großen Teil seines Lebens ein aber längst nicht alles. Freundschaften, Liebe, Familie, der Alltag in einem totalitären Staat und Flipperautomaten. Jepp, richtig gelesen. Es geht viel um flippern und die Flipperautomaten, die in Trinkhallen oder versteckt in Scheunen stehen und später sogar heimlich bespielt werden.
Die Flipper nehmen auch eine zentrale Rolle im Buch ein, die sich aber erst ab der Mitte offenbart. Das ist ziemlich gut gemacht von Sila und vielleicht ist es einer der wenigen humoristischen Aspekte in diesem Buch: Der Bruch der ganzen Szenarie durch die Einführung von Flipperautomaten. Viel Humor steckt insgesamt nicht in der Geschichte. Immer mal wieder in kleinen Alltagszenen taucht eine gewisse Lustigkeit auf aber die Dominanz liegt eher auf den Umständen des Aufwachsens. Ambrosio hat es wirklich nicht leicht. Eine kranke Mutter, ein Internatsleben mit viel Training, Flucht von Freunden über die Grenze, die ersten Rennen im In- und Ausland sowie willkürlicher Gewalt, körperlich sowie psychisch, die von "Mänteln" (Kommissare, Spitzel und "Ordnungskräften" der herrschenden Partei) verteilt wird. Die Gewalt eskaliert zum Ende des Buches auch extrem, da es zu einem Putsch kommt. Die Jugend rebelliert.
Insgesamt will ich gar nicht soviel verraten, denn das ist ein Buch, dass man lesen sollte. Der Schreibstil ist hier wahnsinnig gut. Sila hat es bei mir einige Male geschafft, mit nur einem Satz am Ende eines Absatzes, mich völlig aus dem Konzept zu bringen. Ein Satz! Ein kurzer Vorausblick auf die Zukunft und mir wurde direkt das Herz schwer, obwohl man noch nichts genaues weiß (Beispiel: S. 167, letzter Satz). Für den letzten Satz des ersten Absatzes auf S. 295 würde ich den Autor gerne anschreien. WAS? Was fällt dir ein, es so enden zu lassen?! Ja, ich weiß warum er das so gemacht hat aber die Klarheit, in diesem einen letzten Satz dort, hat mich einfach komplett aus der Bahn geworfen. Wahrscheinlich hat dieses Stilmittel sogar einen fachlichen Namen, ich weiß ihn aber nicht. Nachdem ich mit dem studieren aufgehört habe, habe ich gleichzeitig auch damit aufgehört Texte rein fachlich auseinanderzufleddern. Mir geht es hauptsächlich um die erzählte Geschichte und um die darin vorkommenden Charaktere/Figuren. Wenn diese Parts gut ausgearbeitet und lesbar sind, ist es egal, mit welcher grammatikalischen Finesse sie dargestellt werden. Meine Meinung.
Da ich schon bei Figuren und Charakteren bin, noch ein Hinweis, der beide Bücher betrifft. Die weiblichen Figuren sind wahnsinnig schön ausgearbeitet und ausgesucht. Und das von einem männlichen Schriftsteller, ist es denn zu fassen? In diesem Fall, klares ja. In Bezug auf Tierchen unlimited (erster Roman von Tijan Sila) sei angemerkt: Alle Menschen sollten eine Sarah in ihrem Umfeld haben. Groß, stark, fokussiert und absolut loyal. Sie ist der beste Beistand, den der Protagonist im ersten Buch sich wünschen kann. Bei Fahnen der Wünsche ist es Betty. Die erste Liebe von Ambrosio. Eine starke, junge Frau. Ambitionierte Leistungsschwimmerin und eine ehrliche, von Standardklischees befreite weibliche Figur in diesem Roman. Zudem hat Sila noch eine weibliche Figur eingebaut, die erst am Ende auftaucht und aus der ich absolut nicht schlau werde. Sie ist noch ein Geheimnis für mich, dass mich beschäftigt. Auf der einen Seite, relativ schüchtern aber auf der anderen Seite brutal und einfach undurchsichtig. Zumindest für mich. Das zeigt sehr schön, wie gut dieser Roman geschrieben ist. Welches Buch schafft es, das man sich nach dem lesen einige Tage später immer noch fragt: Was ist mit ihr eigentlich los? Antwort: Nur ein gutes Buch schafft das. Und was mit ihr los ist? Keine Ahnung, ich werd mir aber irgendwas zurecht legen, dass es erklärt.
Abschließend noch, nur für mich, die Vorstellung, ich wäre hier bei einem literarischen Wunschkonzert. Was mir ganz persönlich gefehlt hat, ist das Wiedersehen von Niccoló und Ambrosio am Bahnhof, nachdem letzterer aus dem Wohnmobil steigt. Im ersten Moment, als ich das Buch fertig gelesen habe, überwiegte der Gedanke "Schade, das es nicht drin ist." nur muss ich so ehrlich sein, irgendwie ist es schon gut, dass es nicht drin ist. So kann ich mir wenigstens selber eine Version zurechtlegen ohne das der Autor dazukommt und alles mit dem Arsch wieder einreißt.
Die Fahne der Wünsche ist definitiv ein Buchtipp. Da es mit einem komplett anderen, dem Standard nicht entsprechenden, Setting arbeitet. Man muss es eben genau lesen, damit man versteht. Es gab zumindest in meinem Fall, keinerlei Referenzen aus meiner Jugend, die ich hätte heranziehen können um etwas nachzuvollziehen, zumindest was Leben in einem totalitären Staat angeht. Daher übernimmt der Autor die Aufgabe, die gesamte Lage zu erklären und genau das macht er ziemlich gut. Rein persönlich muss ich diesem Buch zugestehen, es hat mich bei zwei Zugfahrten begleitet und dafür gesorgt, dass ich trotz eines vollen Zuges keine Panik bekommen habe. Fokushose an und rein in die Seiten. Selbst wenn ich angefangen hätte zu weinen, vor lauter Angst, ich hätte es einfach auf das Buch geschoben. Traurige Szenen sind genug drin. Win win Situtation. Ich war trotzdem froh, dass die Geschichte so gut geschrieben ist, dass ich mit Interesse und Neugier lesen konnte, sodass kein Platz mehr war um Angst zu haben. Für solche Geschichten beziehungsweise Bücher bin ich immer sehr, sehr dankbar.
Den Autor, Tijan Sila, findet ihr auch auf Twitter. Die Party geht aber bei ihm definitiv auf Instagram. Ein Autor mit starken Meinungen. Und das ist halt nicht gelogen. Da lernt man dann, Empörung lohnt sich nicht. Man kann auch anderer Meinung sein ohne Widerworte zu geben, musste ich auch lernen, ist aber nicht schlimm. Man schaut sich das an, gibt kein Herzchen und gut ist. Wenn ihr ihm folgt und er dann mal wieder eine Story mit einer starken Meinung macht, werdet ihr merken was ich meine.
Es gibt bereits ein drittes Buch von ihm, mit dem Titel "Krach". Das habe ich aber noch nicht gelesen. Wird bei Zeit und Geld dann nachgeholt.
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